Permalink

0

Weltende – Jakob van Hoddis

Nachdem wir es im vergangenen Monat mit jeder Menge weihnachtlicher Gedichte zu tun hatten, geht es heute mit einem echten Klassiker weiter, der gar nichts mit Weihnachten zu tun hat. Den kurzen Achtzeiler von Hoddis habe ich zum ersten Mal in der Schule gelesen und ich finde das Gedicht bis heute ziemlich gelungen. Der dazugehörige Autor, Jakob van Hoddis ist jedoch weitgehend unbekannt. Hoddis litt unter Psychosen und wurde dann im dritten Reich ermordet. Sein literarisches Schaffen beschränkt sich auf rund 70 Gedichte und sein Name ist ein Pseudonym das aus einem Anagramm seines bürgerlichen Namens Hans Davidssohn besteht. Van Hoddis wurde nach dem zweiten Weltkrieg vergessen, bis heute wird Hoddis jedoch in wissenschaftlichen Kreisen kaum rezipiert, gilt aber gemeinhin als Vordenker des Expressionismus. Sein bekanntestes Gedicht „Weltende“ – schon zu Lebzeiten das Einzige seiner Gedichte, das wirklich Verbreitung fand – stammt aus dem Jahr 1911, könnt ihr hier lesen und werden wir uns jetzt mal anschauen:

Die Formalia des Gedichts sind fast schon uninteressant, verglichen mit dem, was dahinter steht. Das Gedicht ist jambisch, fünfhebig, in zwei Strophen zu je vier Versen unterteilt. Das Reimschema ist etwas ungewöhnlich, während in der ersten Strophe ein umschließender Reim steht (abba), ist in der zweiten Strophe ein Kreuzreim (abab) verwendet. Die erste Strophe endet auf einer Hebung (männliche Kadenz), die zweite auf einer Senkung (weibliche Kadenz). Das ist etwas ungewöhnlich, aber noch nichts wirklich Dramatisches. Aber Vers 6 bietet mir die Chance, endlich mal den Stabreim zu erklären. Bevor hierzulande immer auf die Endsilben gereimt wurde, war es üblich – in den altnordischen Texten bis zum beginnenden Mittelalter findet sich diese Reimform – den Anfangsbuchstaben zu reimen. Diese Stilmittel kennen wir heute als Alliteration, früher gab es dazu aber richtige Versmuster, die vorgaben, nach wie vielen Silben wieder ein Wort mit dem selben Buchstaben folgen muss. Hier heißt es also „um dicke Dämme zu zerdrücken“ – drei Stäbe also.

Doch eigentlich interessant ist dieses Gedicht inhaltlich. Es gibt – gerade in der expressionistischen Lyrik – etwas, das man als Reihungsstil bezeichnet. Einzelbilder werden also Collagenartig zusammengefügt, woraus sich dann ein geschlossenes Bild ergibt. Meistens zumindest. Die Überschrift gibt uns Aufschluss darüber, dass wir es hier mit einem Weltende zu tun haben. Dieser Gedanke war um 1910 herum durchaus verbreitet, die Angst vor dem Halleyschen Kometen, der 1910 zurückkehrte, die angespannte Stimmung in den Städten und in ganz Europa, der drohende Krieg lag bereits in der Luft, da waren Gedanken an einen Weltuntergang naheliegend. Doch was in diesem Gedicht passiert, ist völlig unverständlich. Zunächst fliegt dem Bürger der Hut von dem Kopf, dann liegt das Geschrei der apokalyptischen Reiter in der Luft (Vers 2 spielt auf die biblische Offenbarung des Johannes an), Dachdecker gehen enzwei, die Flut kommt, der Sturm lässt die Meere „hupfen“ – welch Verniedlichung – die Dämme werden zerdrückt, ein Schnupfen befasst die Menschheit, die Eisenbahnen fallen herunter. Was sind das denn bitte für Bilder und welche Reihung ist das? Das Herabstürzen der Eisenbahnen klingt geradezu trivial, was bitte hat der Schnupfen damit zu tun und wieso sind die Meere zu verniedlicht? Diese ganze Reihung wirkt maximal grotesk und völlig unpassend. Dackdecker, also Menschen mit Gefühlen, gehen schlicht entzwei, das Meer jedoch, eine unbelebte Wasseransammlung, entscheidet sich geradezu menschlich zum Hupfen, der Einschub „liest man“ marginalisiert den Weltuntergang wie etwas, wovon man beiläufig mitbekommt.

Was ist also von diesem Gedicht zu halten? Ist es eine ironische Verarbeitung der ganzen Weltuntergangsprophezeiungen des Bürgertums, wird hier diese Untergangsstimmung lächerlich gemacht? Zumindest scheint es, entgegen anderer expressionistischer Gedichte, hier nicht primär um die Untergangsstimmung an sich zu sehen. Zwar wirkt das gesamte Gedicht wie eine Karikatur von Untergangsszenarien, aber in seiner eigentümlichen Form schafft das Gedicht es dennoch, einen gewissen Untergang zu visualisieren, indem es die Unberechenbarkeit des Alltags und der Zukunft erlebbar macht. Der Leser wird von dem Gedicht maximal verwirrt und immer wieder, in jedem Vers aufs neue, überrumpelt. Man muss von vorne durchgehen. Mit Weltende wird das Sujet (das Thema) etabliert, drei Verse lang halbwegs durchgehalten, doch durch Vers vier wieder weggerückt. Zwei Verse lang wird diese Stimmung dann wieder aufgebaut, dann wieder völlig zerstört, sodass man dann ratlos vor dem letzten Vers steht und sich dort völlig von neuem bewusst werden muss, dass ja hier gerade wirklich die Welt untergeht.

Mich persönlich fasziniert dieses Gedicht auch noch nach dem zehnten Lesen. Ich kann mich dieses komischen, irritierenden Eindrucks einfach nicht entziehen und es ist eines dieser Gedichte, bei denen ich bei jedem Lesen ein neues Detail finde. Ihr merkt schon, ich habe die normale Beitragslänge ordentlich überstrapaziert und könnte dennoch noch einiges mehr erzählen. Doch ich entlasse euch heute mit dem Hinweis, dass Hoddis Spätwerk noch um einiges dadaistische und experimenteller sein soll. Mal schauen, ob ich das irgendwo auftreiben kann.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.