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Was wir scheinen – Hildegard E. Keller

Hildegard E. Keller ist eine Schweizer Literaturwissenschaftlerin, sie hat viel zur mittelalterlichen Mystik geforscht, ihr Fachgebiet ist die Mediävistik. Sie war Professorin in Indiana und Zürich und ist außerdem als Verlegerin, Übersetzerin und – was wie recht bekannt gemacht hat – Literaturkritikerin tätig. Sie war im Literaturclub des Schweizer Fernsehens lange Jahre zu sehen und gut ein Jahrzehnt in der Jury des Bachmannpreises tätig. 2021 veröffentlichte sie bei Eichborn einen Roman: Was wir scheinen. Es geht um Hannah Arendt. Die Wahl Hannah Arendts als Thema ist angesichts ihrer Biographie erstmal überraschend. Also schauen wir uns das Buch mal an.

Wir lernen Hannah Arendt kennen, sie ist auf dem Weg nach Tegna. Im Sommer 1975, nur wenige Monate vor ihrem Tod, macht sie dort Urlaub. Ihr Mann, Heinrich, ist schon seit fünf Jahren verstorben, sie hatte im vergangenen Jahr ihren ersten Herzinfarkt, soll es also ruhig angehen lassen. Im Zug nickt sie ein bisschen ein, denkt nach über ihr Leben und ihre Vergangenheit. Kapitelwechsel, wir sind im Jahr 1941. In Manhattan, wo Hannah Arendt gerade nach einiger Zeit in Frankreich angekommen war. Schon 1933 floh sie ins französische Exil vor dem Nationalsozialismus, nun musste sie nach Amerika auswandeln, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Heinrich. Sie findet eine erste Anstellung beim deutsch-jüdischen Magazin Aufbau in New York und wird dort in der lokalen Szene bekannter. Verdient den Lebensunterhalt für die Familie nahezu allein. Arbeitet für die Gesellschaft zur Rettung und Pflege jüdischen Kulturguts. Und dann springt es immer wieder zurück zum Urlaub in Tegna, der Urlaubsbekanntschaft dort und ihren ganz alltäglichen Ritualen, ihrem Obst zum Frühstück. Und wieder zurück nach Jerusalem. Eichmann steht vor Gericht und Arendt ist als Prozessbeobachterin für The New Yorker vor Ort. Mit ihrem Buch zieht sie enormen Gegenwind und enorme Anerkennung auf sich; im Urlaub in Tegna reflektiert sie über diesen Wendepunkt ihres Lebens. Der Wendepunkt, der sie auf die Bahn brachte, auf der sie sich vor ihrer Flucht befand: Zum Forschen an die Universität. Erst in Chicago, später in New York, mit Preisen überhäuft. Und immer wieder zurück nach Tegna, wo das Buch auf der Heimreise nach New York endet. Vier Wochen war sie in Tegna, gute 550 Seiten hat uns Hildegard Keller mitgenommen in das Leben dieser Philosophin.

Was wir scheinen ist ein beeindruckendes Buch. Es ist ein Roman, er erhebt keinen Anspruch auf Wirklichkeit. Und weil er einen personalen Erzähler nutzt, ist natürlich völlig offen, ob Hannah Arendt wirklich so gedacht hat und die Person ist eine Romanfigur. Aber andererseits auch nicht. Der Roman berichtet über reale Ereignisse und soweit ich das mit ein bisschen Wikipedia und meinem Wissen über Hannah Arendt nachvollziehen kann, ist der Roman historisch absolut akkurat geschrieben. Das Buch reiht sich damit ein in eine Reihe von Büchern, die zugleich biographisch als auch fiktional sind. „Die Frau, die den Himmel eroberte“ von Vanessa Giese ist ein Beispiel für einen vergleichbaren Roman. Dieser Trend ist – zumindest aus meiner Wahrnehmung – relativ neu; vielleicht ein Versuch, Biographien, die ja zumeist ein männliches Publikum ansprechen, durch künstlerisches Erzählen für ein weibliches Publikum attraktiver zu machen? Ob das funktioniert, müssen die Verlage wissen, ich kann nur berichten, dass ich diese Erzählform sehr ansprechend fand.

Der Reiz dieser Erzählform liegt in der fehlenden Distanz zwischen Person und Leser:in. Man ist teilweise unangenehm nah an Hannah Arendt dran, erfährt über ihre Frühstücksgewohnheiten, ihr Innenleben und die Beziehung zu ihren Freund:innen. Hier hatte ich noch im ersten Teil einen für mich sehr befremdlichen Moment, als Hannah von ‚Theodor‘ und ‚den Wiesengrunds‘ sprach. Einen Moment hat es gebraucht, bis ich verstanden habe, dass hier Adorno gemeint ist, aber dann kam es mir sehr seltsam vor, diesen Philosophen, den ich aus meinem Studium kenne und mit dessen Theorien und Texten ich mich recht viel beschäftigt habe, so privat zu erleben. Generell, dieses private Erleben von bekannten Figuren war etwas, an das ich mich in der Lektüre erst gewöhnen musste.

Es ist ein faszinierender Roman. Er erzählt natürlich einiges über die Welt während und überwiegend nach dem zweiten Weltkrieg, von Hannah Arendt, die sich zeitlebens behaupten musste und ihre Rolle nie so gespielt hat, wie sie ihr zugedacht war. Ich hatte viel Freude mit der Lektüre, wenngleich sie an manchen Stellen etwas irritierend war. Ich glaube, ohne Vorwissen hat man an einigen Stellen Verständnisprobleme, gerade wenn die Autorin nur Vornamen nutzt, um andere Leute anzusprechen. Ich habe mehr als einmal gegoogelt, welcher Ludwig, Max oder Hermann denn jetzt schon wieder gemeint ist.

Kurzum ist das Buch ein faszinierender Einblick in das Leben einer der wichtigsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Es ist natürlich keine Einführung in das Werk von Hannah Arendt, das wird lediglich gestreift. Aber über ihr (vermeintliches Innen-)Leben erfährt man in diesem Buch einiges, weswegen ich hierfür auf jeden Fall volle 5/5 Sternen gebe.

 

 

 

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