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Under der linden – Walther von der Vogelweide

Nachdem wir jetzt schon seit einigen Monaten dabei sind, uns verschiedene Gedichte anzuschauen, die ja alles aus dem 18. bis 20. Jahrhundert stammten, wollte ich heute mal etwas ganz Anderes machen. Walther von der Vogelweide ist um 1170 geboren, gegen 1230 gestorben – und damit ein Dichter aus dem tiefsten Mittelalter. Er spricht damit nicht unsere Sprache, sondern seine Sprache ist das Mittelhochdeutsche, eine Vorstufe des Deutschen, die man grob gesagt zwischen 1050 und 1350 sprach. Sie folgt auf das Althochdeutsche (750-1050) und wird vom Frühneuhochdeutschen (1350 bis 1650) abgelöst – und es ist für uns heute eine Fremdsprache, ungefähr so wie das Niederländische. Man versteht einige Sachen, aber es gibt ganz viele false friends, man stolpert über einige Sachen und muss es tatsächlich lernen, bis man es gut versteht. Auch ich nach einem Seminar dazu, würde mir nicht zutrauen, mittelhochdeutsche Epen gut verstehen zu können, aber ich denke, ein bisschen verstehe ich schon. Für euch habe ich heute mal eine Version mit neuhochdeutscher Übersetzung nebendran herausgesucht: https://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/mittelalter/hochmittelalter/walter/walterunterdenlinden.htm

Von der Vogelweide beschreibt in diesem Gedicht einen vergangenen Liebesakt mit seiner Angebeteten. Der Ich-Erzähler des Gedichts ist weiblich und beschreibt relativ detailliert, wie sie ihren Freund traf, der sie tausendmal küsste, ihr ein Bett aus Blumen baute und sie dann nach viel gemeinsamem Lachen ins Bett trug. In der letzten Strophe gibt sie dann bekannt, dass sie sich schämt und es niemandem jemals erzählen möchte.

Was macht man nun mit einem solchen mittelhochdeutschen Lied – Vogelweide ist als Minnesänger bekannt und deshalb will ich das mit Fug und Recht als Lied bezeichnen – denn alles, was wir so über klassische Lyrik wissen, kommt im Deutschen erst viel später aus. Und die ganze altnordische Metrik ist hierauf auch nicht so wirklich anwendbar. Wir können bei den Formalia bleiben, dann haben wir vier Strophen zu je sieben Versen, der sechste Vers beschreibt mit „tandaradei“ doch relativ präzise, was da im Schatten der Bäume zwischen den beiden passiert ist. Es wirkt etwas Daktylisch, die Metrik verleiht dem ganzen einen beschwingten Rhythmus, aber ein einheitliches Metrum ist nicht feststellbar – und auch das Reimschema abcabcded ist jetzt nicht ein besonders klassisches Reimschema, sondern etwas für dieses Gedicht erdachtes.

Man könnte vielleicht noch über Minnesang sprechen. Minnesang ist etwas hoch Ausdifferenziertes, aber typischerweise kennt man Minnesang als eine Art von Schauspiel. Der Minnesänger preist seine Geliebte in den höchsten Tönen, aber zu den Konventionen dieses Spiels bei Hofe gehört, dass es ‚nur Show‘ ist, also keinen ernsten Hintergrund hat, ein höfisches Spiel, das sehr festen Strukturen und engen Regeln folgt. Davon ist hier aber nichts zu sehen. Dieses Gedicht hat mit der hohen Minne nicht mehr viel zu tun – mal vom Grundthema abgesehen. Aber wir haben hier die Perspektive der Frau und dann bereut sie ihr Tun auch noch – soweit im moralischen Rahmen dieser Zeit, aber trotzdem – mit der Dichtung des Mittelalters, wie man sie sich klassischerweise vorstellt und vielleicht in der Schule mal angerissen bekommt, hat das hier alles wenig zu tun, für die damalige Zeit ist das geradezu revolutionär und etwas, was sich Walther nur erlauben konnte, weil er zu der Zeit schon einer der bekanntesten Dichter war.

Man könnte noch das „hêre frouwe“ thematisieren. Das klingt recht banal, aber man muss wissen, dass „frouwe“ damals vergleichbar mit unserer heutigen „Dame“ ist, also eine sehr gehobene Ansprache. Und wenn man das in dem Kontext sieht, dass sie sich in den Himmel gelobt fühlt, was liegt da näher, als diese „hêre frouwe“ als die Jungfrau Maria zu sehen – denkt daran, wir sind in einer Zeit, in der das christliche Dogma die einzig denkbare Wertordnung darstellt – und so fühlt sich die Ich-Erzählerin vom Angebeteten auch behandelt.

Was bleibt von diesem Gedicht übrig? Der Gleichklang von Liebe und Natur, die Naturverbundenheit der Liebe und die Überzeugung, dass die Themen sich in 800 Jahren auch gar nicht so sehr verändert haben. Das könnte man heute doch auch noch genauso schreiben, oder? Diese bezeichnende Zeitlosigkeit des Themas Liebe war für mich, als ich das Gedicht las, die spannendste Erkenntnis.

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