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Romanfresser im Theater: Boris Godunow

Für den heutigen Nikolaustag habe ich euch eine Oper mitgebracht. Ich bin gar nicht mal der größte Opernfreund, aber gelegentlich höre ich gerne mal eine, gerade wenn ich irgendwie am Schreiben von Hausarbeiten oder Lesen von Unitexten bin, läuft häufiger mal eine Oper, ein Ballett oder eine Operette im Hintergrund. Und in der vergangenen Spielzeit sah ich am Staatsthater eine Oper, die mich ziemlich beeindruckt hat.

Boris Godunow, geschrieben und komponiert von Modest Mussorgsky nach einem Drama von Puschkin ist eine – man ahnt es – russische Oper, entstanden um 1870. Sie erzählt die Geschichte des Zaren Boris Godunow, der um 1600 herum über Russland herrschte. Wir dürfen in der Oper seine Geschichte miterleben, wie er zum Zaren gewählt und gekrönt wird, aber dann, von Gewissensbissen geplagt wird, weil er die Macht rücksichtslos an sich riss und wie er dieses Zustandes eingedenk dann auf dem Thron Russlands sitzend zusammenbricht und daran verstirbt.

Es tut mir leid, dass die Besprechung der Handlung relativ kurz ausfällt, aber ich muss sagen, dass ich bis heute nicht so wirklich dahintergestiegen bin, was da genau in den drei Stunden Aufführung passiert ist. Ich glaube, ich war nach drei Stunden Oper noch nie so ratlos und gleichzeitig fasziniert, wie es damals bei Boris Godunow war. Man sitzt da so im großen Haus des Theaters, hat noch schnell im Programmheft geblättert, weiß also, dass es irgendwie um einen russischen Zaren geht, dessen Aufstieg und Fall man miterlebt und dann erlebt man eine russische Drei-Stunden-Oper. Ich hatte unglaubliche Schwierigkeiten, auch nur annähernd mitzubekommen, was gerade passiert und welcher Darsteller jetzt wer ist und wo wir gerade in der Handlung, in der Zeit, im Ort sind. Das liegt natürlich zum einen daran, dass ich kein Russisch kann und die Übertitel auch nicht sonderlich informativ waren, aber natürlich auch daran, dass ich mich kaum auf den Opernbesuch vorbereitet hatte. Sicherlich ist das Stück auch nicht so wahnsinnig transparent geschrieben, ich würde sowohl Stoff als auch die Ausarbeitung als durchaus komplex bezeichnen – immerhin befinden wir uns zeitlich und örtlich gesehen nah an Tolstoi und Dostojewski im russischen Realismus, der jetzt nicht gerade für seine kompakten Geschichten bekannt ist.

Dergestalt ist auch diese Oper. Mussorgsky, den man vielleicht noch durch die ‚Bilder einer Ausstellung‘ kennt, stattete die Oper mit einer enormen musikalischen Bandbreite aus und das Staatstheater Darmstadt setzte die Oper mit großem Prunk und voller Besetzung um, sodass ich zeitweise einfach nur voller Erstaunen und tief beeindruckt und bewegt im Saal saß, während auf der Bühne zwei Opernchöre und ein Kinderchor agierten und teilweise mit brachialer Stimmgewalt, teilweise geradezu vorsichtig und zurückhaltend die verschiedenen Stimmungen gut transportierten. Wenn also schon die Handlung für mich eher wenig nachvollziehbar war, habe ich von dieser Oper dennoch enorm viel mitgenommen, die Bandbreite und Vielfalt des Operngenres, die enormen Höhepunkte, die sich mit sehr leisen und zarten Stellen abwechseln – all dies war für mich eine völlig neue Erfahrung und seitdem sehe ich Opern durchaus auch mit einem anderen Blick.

Insgesamt ist Boris Godunow eine sehr mächtige Oper, man könnte es gut mit Krieg und Frieden vergleichen. Schwere Kost, mächtig, komplex, aber unbedingt lesens-/sehenswert. Ich war nach den drei Stunden erstmal voller neuer Eindrücke und würde jedem mal den Besuch einer solchen Oper empfehlen, einfach um sich mal selbst vor neue Eindrücke zu stellen. Wie gut jetzt die Inszenierung war, wie gut die einzelnen Sänger, all das kann ich nicht bewerten. Ich fand es sehr stimmungsvoll, das Bühnenbild war faszinierend und gleichzeitig nicht zu überladen, die Aufmachung war in jedem Fall, mit bis zu hundert Sängern auf der Bühne groß und es war beeindruckend. Sehr beeindruckend.

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