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Die Kindermörderin – H.L. Wagner

k-WP_20150619_001Die Kindermörderin wird in meiner Literaturwissenschaftseinführung als Beispiel für das Offene Drama dienen. Die Auswahl liegt wohl nicht zuletzt daran, dass der hier ansässige Prof. viel an diesem Werk geforscht hat. Aber dennoch (oder gerade deswegen) ist es ein wirklich lohnendes Drama, über das ich heute ein wenig berichten möchte.

Evchen ist mit ihrer Mutter und einem Offizier auf einem Ball. Dort flößt dieser ihrer Mutter ein Schlafmittel ein und vergewaltigt Evchen. Er verspricht ihr zwar, sie zu heiraten, aber sein Vorgesetzter will das mit einem gefälschten Brief vereiteln. Sie, voller Verzweiflung, weil sie sich ihrer Ehre beraubt sieht und ihr Vater sie verstößt, flieht mit dem Kind zu einer Wäscherin, die sie bei sich aufnimmt. Das Missverständnis aufklären wollend kommt der Offizier dann zu ihr – doch zu spät. Sie hat ihr Kind bereits getötet.

Es ist ein Drama im wörtlichen Sinne. Es beginnt schon mit einer dramatischen Begebenheit und endet noch viel dramatischer. Aber es ist insofern bemerkenswert, als dass es mit dem Vorbild der antiken Tragödie radikal aufräumt (vgl. dazu meine Iphigenie-Rezension). Die Handlung geht über acht Monate, von edler Dichtsprache keine Spur, es ist dialektlastig und als Prosastück verfasst. Es hält sich auch an kein schönes Aktschema, statt Exposition werden wir direkt in medias res geworfen, statt Wendepunkt schreitet die Tragödie eigentlich unmittelbar fort. Aber das ist eigentlich gar nicht so sehr das spannende.

Spannend ist eigentlich die Handlung selber. Wir haben es hier mit einer Frau zu tun, die vergewaltigt wird und dadurch ihre Ehre verliert. Wagner nimmt das als Ausgangspunkt für eine Tragödie, die die Frau zur Mörderin macht und positioniert sich nicht dagegen und schreibt solche doch ziemlich verpönten Gedanken schon im Jahr 1776. Wundert es noch jemanden, dass er in einer Bühnenbearbeitung das Ende deutlich umgeschrieben werden musste?

Aber ich bin ja hier, um Bücher zu rezensieren und nicht um sie auseinanderzunehmen und mit euch über die Struktur zu sprechen, deshalb leite ich mal ganz galant zu einem ‚Ich finds gut‘ über. Ich hatte ja bei der Iphigenie schon angedeutet, dass ich die offene Dramenform bevorzuge und genau das hat sich mal wieder bestätigt. Die Kindermörderin ist ein klasse Text, der sich größtenteils gut liest – wenn man sich mal reingefuchst hat, machen eigentlich nur noch die Dialekte Probleme. Die Geschichte selber finde ich auch super gelungen. Mitten aus dem Leben gegriffen und nicht einen antiken Stoff durchexerziert, schön ‚rough’n’dirty‘. Darf man so eigentlich über alte Werke sprechen oder werde ich dafür geköpft? Aber ihr merkt schon, ich kann mich für das Stück erwärmen. Es ist einfach ein guter Klassiker, der mir ein bisschen unterbewertet scheint. Es ist halt irgendwie nicht in einem Top-3-Kanon, der in den Schulen gelesen wird, aber es ist sicherlich dennoch einen Blick wert.

Volle 5 Sterne vergebe ich nicht, dafür kann ich mich zu wenig des Stürmens und Drängens erwärmen, aber für tolle 4,5/5 Sterne reicht es. Ein ziemlich unterbewerteter Klassiker. Für eingefleischte Schillerlocken sicherlich nichts, aber alle, die für andere Dramen offen sind, dürfen gerne mal reinschauen. Und der Anhang in der Reclam-Studienausgabe bezüglich der zeitgenössischen Rezeption und der Umarbeitung ist wirklich lesenswert.

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