Permalink

0

Widerfahrnis – Bodo Kirchhoff

k-2016-11-08-23-47-48Der Gewinner des deutschen Buchpreises 2016 lautet Bodo Kirchhoff. Den Gewinner des vergangenen Jahres habe ich ausgelassen, es war ein sehr dickes und ziemlich schwieriges Buch, aber als in diesem Jahr dann nicht nur der Siegertitel recht überschaubar war und auch noch in mein Budget passte, habe ich ihn mir spontan gekauft und dann inzwischen – wahrscheinlich kräht sechs Wochen nach der Verleihung kein Hahn mehr danach – auch gelesen. Das Buch ist von seiner Konzeption her eher eine Art Novelle und breitet sich auf kaum über 200 recht dünn bedruckten Seiten aus – er bezeichnet sich auch selbst als Novelle. Doch nachher mehr dazu.

Reither war einst Verleger, wohnt jetzt in einer Alpenidylle und findet in der örtlichen Bibliothek ein Buch ohne Verlag, ohne Titel. Am selben Abend klopft „Die Palm“ bei ihr, sie ist die Autorin dieses Buches und beide machen sich auf eine Reise ohne Ziel. Sie fahren nach Italien, fahren von Küstenort zu Küstenort. Sie, ehemalige Hutladenbesitzern und er, der alte Verleger, kommen dabei einander nahe, obwohl sie gar nicht so wirklich merken, wie es geschieht. Als sie dann ein Flüchtlingsmädchen zu sich aufnehmen, spitzt sich die Handlung zu und nimmt ihre dramatische Wendung.

Ich will das Ende nicht spoilern, vielleicht möchtet ihr das Buch auch noch lesen, aber ich kann so viel sagen, dass auf den letzten 60 Seiten sich eigentlich alles grundlegend ändert und die etablierten Charaktere und Handlungsmuster nicht mehr zutreffen – und solche krassen Enden mag ich eigentlich nicht so gerne. Klar, eine Zuspitzung ist gut, aber dass sich am Ende alles nochmal wendet, kann auch sehr kunstvoll sein – für einen Krimi wäre es auch gut, wenn es so ist, aber hier fand ich das etwas überfordernd. Doch fangen wir am Anfang an.

Die Geschichte ist eine Geschichte über das Lieben und dass Liebe aus Erinnerung besteht. Die beiden Protagonisten haben verlernt, wie lieben – aber auch wie leben an sich – funktioniert, zu sehr sind sie in alten Mustern behaftet, beide hatten mal ein Kind oder eines in Aussicht, sind aber inzwischen ohne Familie. Man möchte den beiden zurufen, wie sie sich am besten verhalten sollten, aber sieht ein, dass sie ohnehin machen, was sie glauben zu wollen – sofern sie das denn wissen. Flüchtlinge spielen in dem Buch auch eine große Rolle, eigentlich sind nur sie es, die die Handlung wirklich vorantreiben, denn bis zum zweimaligen Auftreten von Flüchtlingen plätschert die Handlung um die beiden eher so vor sich her.

Drei Aspekte möchte ich hier noch ansprechen. Zunächst mal gefiel mir außerordentlich gut, dass die Erzählung immer wieder auf sich selbst und ihren Status als Erzählung verweise. Der Erzähler verweise darauf, wie er die Geschichte beginnen würde, wie er weitererzählen würde und ist dabei aber kein Ich-Erzähler, auch wenn er die Perspektive von Reither anzunehmen scheint. Man ist auch ohne die Ich-Perspektive sehr nach am Geschehen. Die große Nähe wird auch dadurch erzeugt – und das ist der zweite Aspekt – dass die Anführungszeichen fehlen. Wörtliche Rede ist einfach so eingeflochten, beginnt und endet mitunter mitten im Satz, ohne Kennzeichnungen und ohne, dass es herausgestellt wird. Das ist zunächst verwirrend, sorgt aber dafür, dass es kein Wechselspiel zwischen Dialog und Erzählerbericht gibt, sondern sorgt für eine ganz starke Verflechtung und dadurch wird man ganz enorm in die Geschichte hineingesogen.

Schließlich sollten wir nochmal über die Novelle reden. Die Novelle zeichnet ja ein „unerhörtes Ereignis“ aus, das dann in einer linearen Handlung mündet, dabei gibt es häufig ein zentrales Leitmotiv beziehungsweise die Möglichkeit, die Novelle symbolisch zu deuten. Und ich bin hier mit diesem Novellenbegriff nicht so ganz einverstanden. Zwar gibt es diese eine auch ziemlich lineare Handlung, aber es werden immer wieder andere Themen und Konflikte hineingewoben, so das Erzählen, die Vergangenheit, die Zukunft, die Flüchtlingsfrage. Es gibt zwar dieses Flüchtlingsmotiv, aber so wirklich zentral oder gar symbolisch sehe ich das hier nicht. Und auch über das unerhörte Ereignis müssen wir nochmal diskutieren. Klar, der begrenzte Zeitraum sprechen irgendwie dafür und es wirkt auch nicht so komplex wie ein Roman, aber dennoch, eine klassische Novelle im Sinne Theodor Storms ist das wahrscheinlich nicht.

Und was halte ich jetzt davon? Ist das buchpreiswürdig? Ich bin unsicher. Mir gefiel die Erzählkunst, mir gefiel der Stil, mir gefiel dieses hineinsaugende Lesen, das mich wirklich verzaubert und tief bewegt hat. Das alles fand ich unglaublich kunstvoll und meisterhaft verwoben. Durch die Ankopplung an die aktuelle Flüchtlingsfrage verliert das Buch dabei aber nicht die Bodenhaftung, sondern koppelt sich quasi an die aktuellen Ereignisse zurück und lässt einen den Bezug zur Außenwelt nicht verlieren. All das gefällt mir total gut – und doch kann ich nicht glauben, dass das das Beste sein soll, was der Buchhandel zu bieten hat. Die fehlenden Anführungszeichen und den Sog findet man schon in Erzählungen des beginnenden 19. Jahrhunderts, die aktuelle Thematik wird ohnehin häufig genutzt – einzig dieser besondere Erzählstil, das Selbstreferenzielle sind zwei wirkliche preiswürdige Thematiken – auch wenn auch das nicht unbedingt so einmalig ist.

Bleiben wir dabei, es ist ein gutes Buch, ein wirklich gutes Buch. Nicht ganz trivial zu lesen, aber gut zugänglich, kunstvoll verwoben und doch so simpel. So statisch und doch immer in Bewegung. Ich gebe mal 4,5/5 Sternen. Für den letzten halben Stern fehlt mir ein bisschen das Sahnehäubchen, ein bisschen das, was aus dem sehr guten Buch einen wirklichen Preisgewinner macht. Aber eine falsche Entscheidung war das sicherlich auch nicht. Es ist eben wie gesagt – ein wirklich gutes Buch.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.