Permalink

0

Romanfresser im Theater: Paradies. Spiel mir das Lied vom Anfang

Seit ich Student bin, gehe ich gerne mal ins Theater. Das ergibt dann einen Sinn, wenn man weiß, dass man als Student kostenlose Theatertickets erhalten kann – ein Angebot, das ich als Theaterfan natürlich intensiv wahrnehme. Und weil es ja bald wieder Weihnachten ist und ich in diesem Jahr im Advent mal wieder etwas Neues auf diesem Blog veröffentlichen will (nachdem ich ja vor zwei Jahren Filmkritiken geschrieben habe), gibt es dieses Jahr ein paar Theaterkritiken zu meinen Highlights des vergangenen Jahres.

Eines der ersten Stücke, die ich sah, nannte sich: Paradies. Spiel mir das Lied vom Anfang. Ein Liederabend von Jakob Suske und Maria Ursprung. Ohne genau zu wissen, was mich erwartete, ging ich hinein in die wahrscheinlich hundertste Adaption des Sündenfalls. Adam taucht im Paradies auf, weiß nicht genau, wer er ist und spricht mit einer Stimme von außen, die sich als Gott bezeichnet. Eva taucht kurze Zeit später auf und die beiden streiten sich ein wenig. Adam möchte einfach nur im Paradies leben, während Eva der Mär vom ewigen Wachstum anhängt und gerne erkennen möchte, wie man das Paradies nicht nur kommerziell verwerten kann, sondern will auch erfahren, wie die Ewigkeit beschaffen ist und versucht zu sterben. Zwischendurch wird das Publikum immer wieder in einzelnen Liedern mit direktem regionalen Bezug angesprochen und die Lieder setzen sich kritisch mit dem Zeitgeschehen auseinander. Ein Cherub sitzt am Rand, stellt sich als Cherub Frontex vor und bewacht die Grenze zum Paradies, Sonne und Mond treten auf und singen ihre Lieder und natürlich steht am Ende, nach gut 90 Minuten der Sündenfall.

Ich fand Paradies großartig. Ich habe das Stück mehrere Male gesehen und jedes Mal noch etwas neues entdeckt, sei es in der Musik, die übrigens von zwei Musikern, einer Livelooping-Maschine und einem Plattenspieler kommt und live gespielt wird, sei es in den Liedtexten, die nur teilweise zum Stück passen, sondern eben hier im Rhein-Main Gebiet spielen oder sich mit allgemeinen Sachverhalten auseinandersetzen. Diesen Gegensatz fand ich alles andere als störend, ich fand ihn im Gegenteil sehr gelungen. So fungiert die paradiesische Geschichte oft nur als Fundament, um darauf immer wieder einzelne Episoden des Protests, des Widerstands gegen die gottgegebene Ordnung einzubauen.

Alle Songs sind Originalproduktionen für diesen Liederabend, wurden teilweise von den Darstellern geschrieben und einige davon sind auf Youtube und bei Soundcloud zum Anhören verfügbar. Nicht nur das Instrumentarium der Musiker war beeindruckend, vor allem die Performance der Darsteller hat mich ein- ums andere Mal umgehauen. Jana Zöll und Samuel Koch als Sonne und Mond sind Teil des Stücks und zeigen so, dass Theater nicht nur inklusiv sein kann, sondern dass gelebte Inklusion immer dann funktioniert, wenn es gar nicht mehr auffällt – wie in diesem Stück. Auch alle anderen Darsteller, Adam und Eva oder Schlange und Teufel, die sich großartige Duette leisten, in denen sie nicht nur auf die Popkultur anspielen, sondern auch noch den biblischen Charakteren neue Facetten zuweisen. Songs wie ‚Luisenplatz’ oder ‚Ein Sturm’ (nicht online verfügbar) hatte ich noch Wochen und Monate später im Kopf, an Zeilen aus dem Teufelssong erinnere ich mich bis heute. Die Musik mäandert zwischen Pop und Rock, ist bisweilen extrem druckvoll und teilweise geradezu balladenhaft, aber immer auf den Punkt passend zum Thema.

Und der Cherub. Ein Darmstädter Original, dessen Art man nicht beschreiben kann. Wie würdet ihr einen bärtigen Mann im weißen Engelskostüm, Dosenbier und einem aufblasbaren Maschinengewehr denn sonst bezeichnen? Er ist es auch, der nach dem Schlussakkord das Publikum dazu auffordert, sich den Darstellern, die einen Teil der Gage für den guten Zweck spenden, anzuschließen und über das Gemeinwohl nachzudenken.

Für mich war dieser Liederabend ein absolutes Highlight der vergangenen Spielzeit. Wahnsinnig schade ist nur, dass er wohl so schnell nicht wiederkommt. Die Spielzeit ist vergangen, das Stück ist nicht erneut im Spielplan und eignet sich vermutlich auch nicht für andere Häuser, da es schon sehr darstellerzentriert ist. In jedem Fall bleiben aber noch die sechs Lieder und drei Videos, die im Netz zu finden sind. Und die laufen bei mir bis heute.

In diesem Sinne wünsche ich euch einen schönen ersten Advent und wir sehen uns nächsten Sonntag wieder, bei dem ich euch von einer russischen Drei-Stunden-Oper erzähle. Bis dahin!

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.