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Oktoberlied – Theodor Storm

Ein neuer Sonntag, Zeit für ein neues Gedicht. Weil das Wetter hier bei uns heute ziemlich trübe und grau ist und wir letzte Woche schon so etwas Bedrückendes hatten, habe ich heute zwar eher unpassend ein Herbstgedicht ausgesucht, dafür aber mal wieder eines mit einem doppelten Boden, dem wir uns gleich nähern werden. Hier aber erstmal zum Lesen, Theodor Storms Oktoberlied.

http://gutenberg.spiegel.de/buch/theodor-storm-gedichte-3485/201

Fangen wir, wie immer, kurz mit dem Formalen an, denn dazu gibt es bei diesem Gedicht gar nicht so viel zu sagen. Sechs Strophen mit je 4 Versen, abwechselnd 3 oder 4 Hebungen pro Vers, Jambisch (Unbetont – Betont), die vierhebigen Verse enden mit einer betonten Silbe, die dreihebigen mit einer unbetonten Silbe (man spricht von männlicher bzw. weiblicher Kadenz); nur die dreihebigen Verse reimen sich (a-a, b-b, c-c, a-a, d-d e-e). Die Strophen wirken generell leicht und locker und erinnern an die Volksliedstrophe oder eine Variation des Hildebrandtsliedes, man könnte immer zwei Verse zusammen als Langzeile sehen, mit vierhebigen Anversen (also dem ersten Vers) und dreihebigen Abversen – nur die Versenden passen nicht zum Hildebrandtston.

Spannender ist aber eigentlich, was inhaltlich in diesem Gedicht passiert, als ich die Überschrift ‚Oktoberlied‘ las, dachte ich zunächst an ein getragenes Herbstlied, die Ernte ist eingefahren und man setzt sich langsam zur Winterruhe. Weil auch Theodor Storm ein Autor des poetischen Realismus ist, sich also vom Politischen abzugrenzen versucht durch eine lebensnahe Darstellung der bürgerlichen Realität, war ich schon etwas verwundert. Naturidylle ist in dieser Zeit eigentlich nicht mehr so verbreitet, aber der Realismus und auch gerade dieses Gedicht, steht ja zeitlich gerade noch in der ausklingenden Spätromantik, also wäre das durchaus denkbar gewesen. Das Gedicht zeigt aber etwas völlig anders. Die Unverwüstlichkeit der Welt wird besungen, die Weinlese ist abgeschlossen, und wenn dann das Herz wimmert, kann es gar nicht umgebracht werden. Ja, es wird Herbst, aber der Frühling kommt wieder und den werden wir aus vollen Zügen genießen. Also insgesamt ein relativ fröhliches Gedicht, aber irgendwie fällt es bisher schwierig, es einzuordnen. Was will das Gedicht sagen? Was ist ‚draußen so toll‘ (V. 5)?

Das Gedicht wurde im Jahr 1848 geschrieben. Für mich ist 1848 so eine Jahreszahl, bei der ich hellhörig werde. Es gibt so ein paar Jahreszahlen, die ich sofort mit Ereignissen verbinde. 1648, 1688 1789, 1848, und weitere Jahreszahlen sind für mich untrennbar mit den Ereignissen verbunden. 1848 eben mit der deutschen Revolution (genauer eigentlich mit den europäischen Revolutionen), die zunächst im März begann und sich dann den ganzen Winter über hinzog und bis ins nächste Jahr noch reichte. Und wenn man jetzt noch weiß, dass Theodor Storm aus Norddeutschland kam und dort in Schleswig-Holstein eine besonders heftige Revolution tobte, die sogar zu einem Krieg führte, ergibt sich eine völlig neue Perspektive auf das Gedicht.

Die Zeile ‚unchristlich oder christlich‘ (V. 6) ist auf den religiösen Konflikt, der dort mit herein spielte bezogen, das was ‚draußen so toll‘ (V. 5) ist, ist der tobende Krieg – und der fröhliche Ton, das kameradschaftliche ‚wackerer Freund‘ (V. 23), das Anstoßen auf gemeinsame Ziele (V. 2-4) ist möglicherweise als klare Positionierung innerhalb des Krieges gedacht – zumindest aber als Aufforderung trotz der Kriegswidrigkeiten das Leben zu genießen – möglicherweise aber auch, weiter für die gute Sache zu kämpfen.

Man kann das Gedicht also auf zwei Varianten lesen, für eine klare Positionierung für die demokratischen Kräfte im Gedicht, oder als Appell, sich nicht vom Krieg die Laune verderben zu lassen. Klar ist aber, dass man dieses Gedicht nicht von seinem historischen Hintergrund lösen kann – und durch den Volksliedcharakter entfaltet das Gedicht – zumindest auf mich – auch eine erstaunlich belebende Wirkung.

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