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Kleine Aster – Gottfried Benn

Gottfried Benn ist ein Autor des Expressionismus, er ist also einer sehr ausdrucksstarken Generation von Autoren zuzuordnen, deren Werke uns heutzutage oftmals befremden. Ich schrieb darüber beispielsweise schon mal, als ich einen expressionistischen Roman, den Bebuquin von Carl Einstein rezensierte. Ich mag den Expressionismus ziemlich gerne, weshalb es in diesem Projekt noch einige expressionistische Gedichte zu lesen gibt. Problematisch ist, dass die Autoren oft noch nicht 70 Jahre verstorben sind, daher müsst ihr euch den Text leider selbst besorgen, ich möchte mich keiner Urheberrechtsverletzung schuldig machen.

Das Gedicht umfasst 15 Verse, im Internet wird von zwei Strophen gesprochen, in meiner Ausgabe sind aber keine Strophen eingezeichnet, die Verse sind völlig verschieden lang, es ist keine Metrik zu finden und auch die Reime sind nur spärlich gesät. Vers 1 und 3 reimen sich (gestemmt – geklemmt) und Vers 7 und 8 (schnitt – glitt). Spontan fällt mir nicht ein, wie man das in der Analyse verwursten könnte, aber ich finde es dennoch wichtig, es mal zu erwähnen. Diese Formlosigkeit ist übrigens eher untypisch für den Expressionismus, der eine innere Unruhe im Gedicht mit einem strengen Formenkorsett zu bändigen, das ist hier nicht der Fall.

Aber kommen wir mal um Inhalt. Das lyrische Ich sieht zu, wie ein Fernfahrer auf den Seziertisch gelegt wird und entdeckt, dass ihm eine Blume zwischen die Zähne geklemmt wurde. Als sie Richtung Gehirn rutscht, legt er sie behutsam in den Brustkorb, bevor dieser zugenäht wird. „Ruhe sanft, kleine Aster!“ lauten die letzten beiden Verse. Und so wenig die Form zum Expressionismus passte, so gut passt der Inhalt. Der Tod, das Verstorbene, der Leichnam und seine Sektion wird beschrieben, ein typisches Motiv, die Entmenschlichung, der Blume wird im Gedenken der Vorzug gegeben. Die Aster, die dunkelhelllila (welche Wortschöpfung) ist und liebevoll zischen die Zähne geklemmt wurde, steht eindeutig im Mittelpunkt. Der Mensch bleibt völlig unbekannt, nur ein Fernfahrer, der halt ertrunken ist, tatsächlich ist rein quantitativ über seine Organe mehr berichtet als über ihn als Menschen, die Aster wird sogar als „du“ angesprochen, was dem Menschen verwehrt bleibt. Solche Gedichte sind typisch für den Expressionismus, das hier geschriebene ist unter dem Eindruck der Industrialisierung, des massiven Elends in den Städten und der völligen Entmenschlichung unter den dortigen Arbeitsbedingungen verfasst. Warum eine Aster? Ich weiß es nicht sicher, aber ich könnte mir einen Rückbezug auf das romantische Motiv der blauen Blume vorstellen, die ja für Sehnsucht und Flucht steht und ich habe bei expressionistischen Gedichten häufiger mal das Gefühl, dass die Todessehnsucht, die häufig in ihnen steckt, eher in Richtung einer Natursehnsucht geht, der Tod also als Metapher für den Rückzug in die Natur. Etwas krude und vage Annahme, aber ich finde, das klingt, unter dem Eindruck von zwei Jahren in einer noch recht grünen Großstadt durchaus plausibel. Waldspaziergänge haben einfach im Gegensatz zu der Wahl zwischen Industriegebiet oder überfülltem Stadtpark ihren Reiz.

Insgesamt ist das Gedicht mal wieder relativ verstörend. Ich habe bei expressionistischen Gedichten immer so eine gewisse ‚professionelle Distanz‘ und lasse die Gedichte nicht mehr an mich heran, aber für Neulinge in diesem Gebiet – ich erinnere mich an meine Oberstufenzeit und die erste Stunde Expressionismus – mag das ziemlich beklemmend sein. Kein Wohlfühlgedicht, aber dafür umso interessanter – ich habe ja kaum einen einzigen Aspekt behandelt.

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