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Die Wohlgesinnten – Jonathan Littell

k-P1010059Mein Deutschlehrer der 12. und 13. Klasse erzählte einst über dieses Buch. Es habe ihn damals tief beeindruckt und er legte uns ans Herz, es irgendwann einmal im Leben zu lesen. Es ist ein 2006 veröffentlichter Roman eines französischen Schriftstellers und es löste extreme Kontroversen aus, ob man über ein solches Thema denn in dieser Form schreiben dürfte. Die Rede ist vom Holocaust.

Ich mag euch an dieser Stelle nicht mit einer endlosen Handlungszusammenfassung der 1300 Seiten nerven, der deutsche Wikipedia-Artikel ist, wenn es um den Inhalt geht, ganz anständig gelungen und liefert eine detaillierte Zusammenfassung der einzelnen Kapitel. Ich möchte hier nur grob umreißen, dass ‚Die Wohlgesinnten‘ die Erinnerungen des fiktiven SS-Offiziers Maximilian Aue aus der Ich-Perspektive erzählt. Angefangen bei seinem Weg zur SS, begleiten wir ihn an seinem Weg an die Ostfront, zu den Pogromen im Ghetto, zum Massenmord von Babyn Jar, zu den Diskussionen über Bergjuden bis Aue, weil er sich nicht an den politischen Willen hält, im Kessel von Stalingrad wiederfindet. Dort wird er nur noch ausgeflogen, weil sein Freund das Namensschild vertauscht hat, und landet anschließend im Lazarett. Er besucht seine Mutter und erlebt, wie sie bei seinem Besuch tragisch ermordet werden, weiß aber nicht, dass er es selbst zu gewesen sein scheint, auch wenn hartnäckig zwei Kommissare gegen ihn ermitteln. Er wird nun befördert und kümmert sich von dort an um die Optimierung der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern, scheitert aber erneut am politischen Widerstand gegen seine Ideen. Als Berlin zerbombt wird, verbringt er seinen Urlaub in einem verlassenen Haus seiner Schwester, um sich seinen Fantasien hinzugeben. Sein Freund holt ihn dort ab und bringt ihn zurück nach Berlin. In den letzten Tagen des zweiten Weltkrieges begegnet er dann dem Führer, den er jedoch in die Nase beißt. Kurz darauf ermordet er seinen Freund im Tiergarten und setzt sich nach Frankreich ab.

An dieser Stelle kann ich natürlich auch nicht umfassend über das Buch selbst sprechen, das sicherlich einiges an literaturwissenschaftlicher Betrachtung wert wäre. Nur zwei Sachen möchte ich kurz ansprechen, weil ich sie für die zentralen Aspekte halte. Andere Aspekte, wie beispielsweise das Zwillingsmotiv und die Bedeutung der Polizisten (Stichwort: Orestie) sei hier mal vernachlässigt.

Aue ist nämlich ein sehr unzuverlässiger Erzähler. So erinnert er sich beispielsweise nicht an den Mord an seiner Mutter und seinem Stiefvater, obwohl er ihn ziemlich sicher begangen hat. Und gerade am Ende der jeweiligen Kapitel kommt es immer wieder zu seltsamen Wahnvorstellungen von Aue und gegen Ende des Buches zu einer Reihung von Kuriositäten, von denen der fiktive Ich-Erzähler immer wieder beteuert, sie seien so passiert – aber als Leser muss man sich stets die Frage stellen, ob Aue wirklich die Wahrheit erzählt, ob er nicht vielleicht psychisch krank ist und seine Vorstellungen für Wahrheiten hält. Dieser Eindruck der psychischen Erkrankung erhärtet sich im Verlauf des Buches immer mehr und führt dazu, dass man sich zunehmend fragt, wie weit man Aue überhaupt noch glauben kann oder ob er einem nicht völligen Unsinn erzählt. Seine Homosexualität ist übrigens auch durchaus eine Erwähnung wird, kommt er doch dieser Neigung wegen das ein- oder andere Mal in den Konflikt mit dem System, das er so vehement verteidigt.

Kommen wir aber mal zum – meiner Meinung nach – wichtigsten Punkt, der auch vielfach im Feuilleton diskutiert wurde: Aue ist ein Sympathieträger. In der Tat ist Aue ein Charakter, der durchaus sympathisch ist. Er reflektiert sein Handeln, verurteilt es mitunter selbst, sieht es jedoch als notwendig an, wirkt ziemlich gebildet und belesen und sieht sich (natürlich im Rahmen des nationalisozialistischen Kontextes!) sogar dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit verpflichtet. Er ist kein irrer Judenhasser, sondern ist ohne persönlichen Hass einfach von deren Minderwertigkeit überzeugt, Aue ist auch kein irrer Kriegsfetischist, sondern scheint in allem ein durchaus kritischer Geist seiner Zeit zu sein. Und das ist das Gefährliche daran. Ich musste mir immer wieder vergegenwärtigen, dass Aue tatsächlich durch und durch ein Holocausttäter ist und musste mich selber hinterfragen, wie ich es in Erwägung ziehen konnte, einen solchen auch nur im Ansatz sympathisch zu finden. Die Antwort ist: Weil er es ist.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Littell mit der Figur genau diese Reaktion erreichen wollte. Die Figur des Dr. Aue zeigt in abstoßender Klarheit, dass der Nationalsozialismus keine Ausgeburt einiger kranker Geister war, die mit ihrer Demagogie einem Volk eine Ideologie aufgezwungen haben und das Volk geblendet haben. Nein, viel mehr war der Nationalsozialismus eine Ideologie, die aus der Mitte der Gesellschaft kam und die Ideologie über alles gestellt hat. Und das kann jederzeit wieder passieren, sobald eine Ideologie wieder a priori als gegeben gilt, wie es im Nationalsozialismus der Fall war. Gut, ich gebe zu, das war etwas platt ausgedrückt, aber ich denke, im Kern läuft es auf diese Entmystifizierung und damit das Bewusstsein, dass so etwas immer wieder geschehen kann, hinaus.

Was sage ich also zu dem Buch? Es lag mir mitunter schwer im Magen, ich habe lange daran gesessen und einige Stunden mit offenem Mund auf dem Sofa verbracht. Als ich es fertig hatte, fühlte ich mich wahnsinnig erleichtert, aber ich möchte die Lektüre nicht mehr missen. Es hat mich definitiv bewegt und von allen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus, die ich bisher miterlebt habe, war diese sicherlich die Intensivste.

Ich kann und möchte keine Sterne vergeben. Ich kann auch keine allgemeine Leseempfehlung aussprechen. Aber ich kann sagen: Es lohnt sich. Wenn ihr mal Zeit und viel Nerven habt, lest dieses Buch, ihr werdet es nicht bereuen. Abschließend noch ein paar Worte zum Anfang: Es gab Kontroversen, ob man einfach so fiktive Romane über den Holocaust schreiben dürfe. Und ja. Man darf. Man muss es sogar tun.

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