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Die Hauptstadt – Robert Menasse

Die Preisverleihung zum deutschen Buchpreis 2017 habe ich live am Bildschirm verfolgt. Noch am selben Abend durfte sich meine örtliche Buchhandlung über eine Bestellung von mir freuen. Es dauerte dann eine gute Woche, denn tatsächlich musste sie auf den Nachdruck warten, dann hielt ich das Buch in den Händen. Stellte es in mein Regal mit den ungelesenen Büchern und ließ es dort eine Weile liegen. Zu Beginn dieses Jahres nahm ich mir vor, es auf jeden Fall noch vor der Verleihung des nächsten Buchpreises zu lesen – und hier ist es nun.

Ein Schwein geht um in Brüssel. Jeder sieht es und doch ist es nicht greifbar. Ein Mord passiert und scheinbar gibt es keine Unterlagen darüber. Mit diesem Intro setzt das Buch ein. Wir erfahren von einem, wie sich herausstellt, dem letzten Auschwitz-Überlebenden, der seine Wohnung aufgeben muss und in ein Pflegeheim zieht. In der EU-Kommission möchte die Leiterin der Kulturabteilung sich durch ein Jubiläumsprojekt profilieren, bei dem die letzten Holocaust-Überlebenden auftreten sollen. Ein nach dem Mord vom Dienst freigestellter Polizist möchte in einem Mord ermitteln und gerät dabei in internationale Nachrichtendienste hinein. Und der Mörder ist auf der Flucht durch Polen und flieht vor seinen Auftraggebern. Ein in die Jahre gekommener Hochschullehrer stellt sein Konzept einer völlig neu geplanten europäischen Hauptstadt vor. Nicht zu vergessen auch die Schweinezüchter, die Schlachtabfälle nach China verkaufen, sich aber nicht auf eine europäische Lösung einigen können. Und die Frage bleibt – gab es jemals ein Schwein?

Ich habe das Buch gelesen und nach ungefähr einem Dritter habe ich verstanden, warum das Buch mit einem Buchpreis geehrt wurde. Es wird in den Medien kolpotiert, es handele sich um den weltweit ersten Roman über die EU – die Behauptung finde ich etwas kühn, aber viele Romane dieser Art gibt es definitiv nicht.

Man sollte vor der Lektüre des Romans wissen, dass Menasse keineswegs ein EU-Skeptiker ist, tatsächlich schrieb er vor einigen Jahren den ‚Europäischen Landboten‘ ein Plädoyer für eine stärkere Union. Dann versteht man den Roman nicht als Kritik an den europäischen Verhältnissen, sondern als eine halb dokumentarisch, halb satirisch und halb bewundernde Dokumentation europäischen Handelns, das sich eigentlich nur aus den Lebensgeschichten der beschriebenen Figuren speist. Die Perspektive wechselt unangekündigt alle paar Seiten, was zunächst verwirrend wirkt, aber schon nach einigen Seiten kein Problem mehr ist, weil die Handlungen tatsächlich alle verbunden sind.

Wie funktioniert diese Kommission? Sie funktioniert nach einer Form von chaotischer Ordnung, voller Bürokratie und mit einem gigantischen Beamtenapparat. Und doch sind diese Beamten die einzigen, die die Europäische Idee – einem Regieren jenseits des Nationalstaates – wirklich ernst nehmen, nur so kann man sich erklären, wieso einer der Protagonistinnen auf ihren Pass angesprochen wirklich fassungslos wird, wieso dieser relevant ist. Der Roman verarbeitet darüber hinaus wahre Ereignisse. Die Flüchtlingsströme sind für einen Autounfall verantwortlich, ein tatsächlich stattgefundener Anschlag reißt jäh eine Lücke in die Protagonistendecke und so abwegig ist es nicht, dass es so ein Jubilee-Project gegeben haben könnte, das mit einem kleinen Fingerzucken völlig entstellt und schließlich eingestellt wurde.

Der Roman ist sehr amüsant zu lesen, trotz seines Preises, der ja häufiger mal an etwas sperrige Titel verliehen wird, hat mich der Roman durch seine klare, einfache und humorvolle Sprache in den Bann gezogen. Klar, einige französische Einschübe habe ich nicht verstanden – diese jahrhundertealte Unsitte kann ich nicht nachvollziehen[1]. Aber ansonsten ist der Roman gut verständlich, mit knapp 450 Seiten ist er auch nicht übermäßig lang und dass er sehr kunstvoll ist, kann man nicht verhehlen. Es schadet nicht, ein bisschen Schulwissen über die europäischen Institutionen mitbringen, es ist aber auch nicht unbedingt notwendig. Ich würde den Roman einfach mal allgemein weiterempfehlen. Wenn ihr schon immer mal Kunst statt Unterhaltung lesen wolltet[2], seid ihr mit diesem Buch gut bedient[3]. Ich gebe hierfür gerne volle 5/5 Sternen. Es lohnt sich wirklich, auch wenn es zugegeben noch etwas teuer ist. Aber im Oktober kommt das Taschenbuch. Und dann gibt es keine Ausrede mehr.

[1] Vielleicht sollte ich einfach mal Französisch lernen?

[2] Ich führe das jetzt nicht weiter aus. Seht es als eine kleine ironische Spitze und lest euch jetzt wieder meine nächsten Heftromanrezensionen durch, okay?

[3] Keine Sorge, es hat keine Fußnoten!

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